Schwachstellen in Reaktorbehälter: Risse in belgischem AKW entdeckt

Ein Reaktorblock des belgischen AKW Doel ist von der Atomaufsicht bis auf weiteres stillgelegt worden. Es bestehe der Verdacht auf Risse im Reaktorbehälter vom Block 3. Baugleiche Anlagen stehen auf der ganzen Welt. In Belgien könnten zwei betroffene Meiler für immer stillgelegt werden.

Belgische AKW Doel, Bild: google-maps

Belgische AKW Doel, Bild: google-maps

Einem nicht dementierten Bericht der Zeitung „Le Soir“ zufolge wurde bei einer Routinekontrolle im Juni ein 15 bis 20 Millimeter großer Riss in dem Reaktorbehälter entdeckt. Bislang sei aber noch unklar, wie groß die Schäden tatsächlich seien. Bis zu einer Klärung dürfe der Reaktor Doel-3 mit 1.000 Megawatt Leistung aber nicht wieder in Betrieb genommen werden, so die Atomaufsicht. Die möglichen Risse waren bei einer seit Anfang Juni laufenden Routineinspektion mit neuen Ultraschall-Messgeräten entdeckt worden. Es handele sich um „zahlreiche Hinweise“ auf „umfangreiche Materialfehler“ im Stahl des Reaktorbehälters.

Doel 3 ist einer von vier Druckwasserreaktoren nahe der Stadt Antwerpen, der im Mai 1982 in Betrieb genommen wurde. Weltweit gibt es laut belgischer Atomaufsicht 21 Reaktorbehälter des gleichen Typs, u.a. in den Schweizer AKW Mühleberg und Leibstadt, aber auch im belgischen AKW Tihange-2. Zehn seien insgesamt nach Europa geliefert worden, darunter jeweils zwei nach Deutschland, Spanien, die Niederlande und in die Schweiz. Sie wurden schon Anfang der 70er-Jahre von der niederländischen Werft Rotterdamsche Droogdok Maatschappij gebaut, die seit 1996 nicht mehr besteht. Weil es die Firma nicht mehr gibt, bestehen nun Zweifel bezüglich einer möglichen Reparatur. Die belgische Aufsichtsbehörde bittet weltweit um Prüfung vergleichbarer Probleme: Da die Herstellerfirma nicht mehr besteht, wisse man nicht, welche Kunden es gab. Deshalb seien alle anderen Atomaufsichtsbehörden über den Fall informiert und gebeten worden, zu prüfen ob in ihrem Land ebenfalls ein solcher Reaktorbehälter existiert, so Karina De Beule, Sprecherin der Atomaufsicht AFCN.

  • AFCN-Direktor Willy de Roovere ist „derzeit ziemlich skeptisch“, dass Doel wieder ans Netz gehen wird. Es gebe „nach unserem Geschmack ein bisschen zuviele Mängel“.

Der Betreiber Electrabel muss in Doel und Tihange nun nachweisen, „dass die Anomalien kein Problem für die Unversehrtheit des Reaktors darstellen, in Situationen von normalem Druck genauso wie bei hohem Druck, der im Fall eines Unfalls eintreten würde.“ Kann er das nicht, müssen Doel-3 und Tihange-2 aus Sicherheitsgründen für immer stillgelegt werden, eine Reparatur wäre sehr aufwendig und teuer.

Belgiens Innenministerin Joëlle Milquet versicherte, es bestehe keine Gefahr, „weil der Reaktor stillgelegt sei“. Marlene Holzner, die Sprecherin von EU-Energiekommissar Günther Oettinger sagte am Donnerstag in Brüssel, dass die EU-Kommission über den aktuellen Fall in Belgien nicht informiert worden sei, es gebe dazu auch keine Verpflichtung, weil es nicht um einen Unfall gehe.

Laut Schweizer Atomaufsicht Ensi werden die Reaktordruckbehälter der Atomkraftwerke Mühleberg und Leibstadt geprüft, beide sind derzeit für die Jahresrevision vom Netz. Der Reaktordruckbehälter des AKW Leibstadt stammt nach Kenntnisstand des Ensi aus japanischer Produktion – wird aber von der belgischen Atomaufsicht als ein betroffener genannt. In Deutschland sind die AKW Brunsbüttel und Philippsburg 1 betroffen, deren Druckbehälter ebenfalls von der Werft RDM gebaut worden sind.

  • Die Rissbefunde machen deutlich, wie lückenhaft und unvollständig die Sicherheitsüberprüfungen in Atomkraftwerken generell sind. Der Bevölkerung wird eingeredet, alles werde wiederholt und mehrfach geprüft. Doch es bleiben entscheidende Fehler möglicherweise Jahrzehnte unentdeckt.

Die fast abgeschlossenen EU-Stresstests bei Atomkraftwerken haben für die belgischen Reaktoren keine Beanstandung bezüglich der Reaktordruckbehälter ergeben.

„Trotz bestandener Stresstests müssen Reaktoren nun heruntergefahren werden. Dies zeigt, dass der Test zwar hilfreich für die Imagepflege der Atomindustrie ist, aber als Sicherheitsnachweis versagt hat“, sagt Heinz Smital, Atomphysiker und Atomexperte von Greenpeace.

Belgien hat nach Fukushima den schrittweisen Atomausstieg beschlossen: sofern ausreichende, alternative Kapazitäten zur Verfügung stehen, sollen zwischen 2015 und 2025 die sieben AKW vom Netz gehen. Zudem wird der Bau neuer Atomkraftwerke verboten und die Betriebsdauer der bestehenden Blöcke auf 40 Jahre begrenzt. Der bisherige Artikel 9, der es erlaubte, durch ein einfaches königliches Dekret vom Ausstiegszeitplan abzuweichen, soll ersatzlos gestrichen werden. Am 20. Juli hatte die belgische Regierung den Fahrpan genehmigt, der die zwangsweise Abschaltung aller Reaktoren vorsieht: Doel-1 und 2: 2015, Doel 3: 2022, Tihange-2: 2023 und Tihange-1, Tihange-3 und Doel-4: 2025. Das geänderte Gesetz muss noch vom Parlament genehmigt werden, das im September wieder tagt.

Damit wurde aber auch erst vor wenigen Wochen eine Laufzeitverlängerung für die nun betroffenen Reaktoren in Tihange beschlossen, die eigentlich 2015 vom Netz gehen sollten. Im Juli waren Lecks im Brennelementelagerbecken bekannt geworden, die seit Jahren bestehen und deren Ursache nicht gefunden wird.

Atomkraftgegner fordern die sofortige Stilllegung aller betroffenen Anlagen:

„Es muss schnell geklärt werden, um welche Anlagen es sich weltweit handelt. Diese Reaktoren müssen dann aus Sicherheitsgründen sofort vom Netz. Der Reaktorbehälter ist die wichtigste Barriere für Radioaktivität bei einem Störfall – hat er ein Leck, kann es zur Freisetzung kommen“, so Jan Becker von contrAtom. „Es offenbart sich aber auch ein Chaos bei den Behörden, die offenbar nicht mal wissen, wer die jeweiligen Reaktorbehälter gebaut hat. Insgesamt ein sehr besorgniserregendes Bild.“

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Quellen (Auszug): dpa, heute.at, ftd.de, bazonline.ch; 09./10.08.2012; nuklearforum.ch, 24.07.2012; volksfreund.de, 29.04.2012; greenpeace.de; 10.08.2012