„Ad absurdum“: Stresstests in Frankreich, Tschechien und Slowakei

In Frankreich sind Investitionen in Milliardenhöhe nötig, in Tschechien müssen Sicherheitsvorkehrungen verstärkt werden. In der Slowakei wird die Wahrscheinlichkeit für ein Erdbeben ausgeblendet – ein gezielter Flugzeugabsturz auf die Reaktoren wird aber nicht untersucht. Atomkraftgegner kritisieren die „Stresstests“, die nach dem GAU von Fukushima europaweit die Sicherheit der bestehenden Atomanlagen bescheinigen soll: sie betrachten nicht alle möglichen Unfallszenarien, sind nicht unabhängig und nicht einheitlich. Ein „ad absurdum“.

In Frankreich dürfen alle 58 Atomkraftwerke weiterhin in Betrieb bleiben. Sogar die ältesten zwei Blöcke in Fessenheim bekamen trotz weitreichender Kritik hinsichtlich Erdbebensicherheit und Überschwemmungsgefahr gute Noten. Aber die staatliche Atomaufsicht ASN setzt den Betreibern eine Frist bis zum 30. Juni, um Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit in allen Reaktoren vorzulegen. ASN-Chef André-Claude Lacoste sprach von „massiven Investitionen“ über „mehrere Dutzend Milliarden“ Euro, die insgesamt notwendig sind. Die teuren Nachbesserungen, zu denen Notstromversorgungen und Notfallkühlungen gehören, dürften sich auch in einem höheren Strompreis niederschlagen. Die Atomaufsicht forderte auch eine schnelle „Eingreiftruppe“ für Atomunfälle, die bis Ende 2014 stehen soll. Spezialisten und Material sollen dann innerhalb von weniger als 24 Stunden am Unglücksort sein. Bis die Mängel behoben sind braucht aber – anders als zum Beispiel in Japan – keiner der Reaktoren abgeschaltet werden.

Atomkraftgegner kritisieren daher die Stresstests: in Fessenheim sei beispielsweise ein möglicher Dammbruch mit folgender Überschwemmung gar nicht untersucht worden. Generell habe die ASN „kombinierte Risiken“ nicht ausreichend untersucht, bemängelte die Atomexpertin der Umweltschutzorganisation Greenpeace, Sophia Majnoni. Fukushima war einem solchen doppelten Risiko eines Erdbebens und einer Überschwemmung ausgesetzt. Das Anti-Atom-Netzwerk „Sortir du Nucléaire“ kritisierte die ASN, die als Behörde der Regierung unterstehe und damit nicht unabhängig sei. Internationale und unabhängige Experten sind an der Untersuchung nicht beteiligt gewesen, sagte Sprecherin Opale Crivello.

Frankreich ist nach den USA der weltweit zweitgrößte Betreiber von Atomkraftanlagen und bezieht 75 Prozent seines Stroms aus Atomkraftwerken. Die traditionell hohe Akzeptanz der Atomindustrie in Frankreich hatte nach dem Unglück von Fukushima einen Dämpfer erhalten. Sie ist zudem zum Wahlkampfthema vor der Präsidentenwahl im April geworden. Sozialisten und Grüne fordern eine Reduzierung – Staatschef Nicolas Sarkozy, der seine Wiederwahl anstrebt, befürwortet sie dagegen. Die Stilllegung des AKW Fessenheim könnte im Rahmen des Präsidentschafts-Wahlkampfes Verhandlungsgegenstand werden.

Tschechien

In Tschechien sind ebenfalls die Ergebnisse der „Stresstests“ veröffentlicht wurden und fallen – wen wunderts – ebenso positiv aus. „Derartige Mängel, dass eine sofortige Abschaltung erforderlich wäre, wurden nicht festgestellt“, sagte der Leiter der Abteilung für Atomsicherheit, Petr Brandejs, am Dienstag der Nachrichtenagentur dpa.

Allerdings wurden in den zwei Atomkraftwerken Temelin und Dukovany Sicherheitsmängel und Nachrüstungsbedarf festgestellt. So müssen in Temelin beispielsweise eine weitere Reserve-Energiequelle in Form von mobilen Dieselgeneratoren bereitgestellt werden. In beiden Kraftwerken werde auch das System zur Beseitigung des Wasserstoffes in der Schutzhülle der Reaktoren verstärkt. Dort hatte es im japanischen Fukushima massive Probleme gegeben, die zur Explosion führten. Als besondere Risiken am Standort Dukovany wurden die Abhängigkeit von der externen Stromzufuhr und die Gefahr einer Überschwemmung bei extremen Starkregen ausgemacht. Auf einen konkreten Aktionsplan will sich die Behörde aber erst nach Veröffentlichung der EU-Stresstest-Ergebnisse festlegen, definitive Schlussfolgerungen werden frühestens bei einem EU-Gipfel im Sommer erwartet. Bis dahin wird keiner der sechs Reaktoren russischer Bauart, die einen Anteil von etwa 30 Prozent an der Gesamtstromerzeugung haben, abgeschaltet.

Die tschechischen Atomkraftwerke sind immer wieder wegen magelhafter Sicherheit in den Schlagzeilen. Die vier Blöcke in Dukovany vom Typ WWER-440/213 besitzen kein Containment (Schutzhülle), wie es in westlichen Reaktoren vorgeschrieben ist. Vergleichbare deutsche Kraftwerke, die sich in Greifswald befanden, mussten stillgelegt werden. Das fehlende Containment bietet kaum Schutz gegen Einwirkungen von außen – wie z. B. durch einen Flugzeugabsturz – sowie gegen austretende Radioaktivität bei schweren Unfällen im Reaktor. Zudem sind die Blöcke in Dukovany „Zwillingsanlagen“ mit gemeinsamem Zentralsaal für je zwei Reaktoren. Damit verbunden ist die Zusammenlegung zahlreicher Sicherheits- und Serviceeinrichtungen, die beim Störfall eines Reaktors die Möglichkeit der Abschirmung unmöglich machen.

Auch das AKW Temelin vom russischen Typ WWER-1000 wäre in Deutschland nicht genehmigungsfähig. Selbst die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) spricht von „zahlreichen Defizite und Verbesserungsnotwendigkeiten“. Seit Baubeginn Ende der 80er Jahre haben sich bereits mehr als 130 Störfälle ereignet. Anlagenspezifische Kritikpunkte sind laut GRS zum Beispiel fehlende Notstromkapazität, die in Fukushima zum Ausfall der Kühlung führten. Mit dem Bau von Temelin wurde im Jahre 1983 begonnen. Die damalige Tschechoslowakei bekam ihre Druckwasserreaktoren vom sozialistischen Bruderstaat Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch wandten sich die Tschechen in den 90er Jahren an den US-Konzern Westinghouse, der das Sicherheitssystem lieferte. Diese Vermischung von russischer und amerikanischer Sicherheitstechnik ist laut Kritikern ein Problem. Greenpeace klagt seit mehr als zehn Jahren über eine poröse Schweißnaht direkt am ersten Reaktor, das dilettantisch angebracht worden sei. Die GRS sieht wegen einem möglichen Bruch einer Frischdampfleitung „aufgrund der Ausfu?hrung der Rohrleitungen sowie der Gestaltung der Räumlichkeiten“ die aktuellen deutschen Regelwerke für AKW nicht erfüllt.

Slowakei

Die slowakische Atomaufsicht hat den vier Atommeilern des Landes einen hohen Sicherheitsstandard bescheinigt. Die Gefahr, dass Naturkatastrophen wie zum Beispiel ein Erdbeben auftreten könnten, hält die Behörde für gering. Ein seismisches Messsystem überwache die Erdbebenaktivität stetig – und könne vor Gefährdungen rechtzeitig warnen. An den Standorten Bohunice und Mochovce werden insgesamt vier Druckwasserreaktoren WWER-440/213 sowjetischer Bauart betrieben, die nachträglich mit westlichen Steuersystemen ausgerüstet wurden. Es fehlt ein Containment gegen Einwirkungen von außen und Einschluss von Radioaktivität bei einem Störfall. Die Wiener Umweltstadträtin Ulli Sima betitelt Bohunice als einen „definitiven Hochrisiko-Reaktor“. Der geplante Zubau von zwei Reaktoren in Mochovce wird zudem heftig kritisiert.

Der Stresstest war nach der Atomkatastrophe in Japan für alle 143 Strommeiler in der EU angeordnet worden, untersucht wurden extreme Naturereignisse wie Überschwemmungen und Erdbeben. Vernachlässigt wird ein möglicher Flugzeugabsturz, dem kein Reaktor standhalten würde. Auch fehlt die Beurteilung von mehreren Ereignissen in Folge, die zu einer Havarie führen können. Wegen der völlig differenten Anforderungen und der mangelhaften Unabhängigkeit und der Risikowahrnehmung der Untersuchungskommissionen in den einzelnen Ländern sind die Ergebnisse weder kritisch noch zugunsten einer größt-möglichen Sicherheit.

„Die Untersuchung der Anlagen durch eigene Experten oder den staatlich unterstellten und nicht unabhängogen Gutachtern ist absurd“, so Jan Becker von contrAtom. Zudem sind K.O.-Kriterien oder bekannte Sicherheitsprobleme schlicht missachtet worden, eine Vergleichbarkeit wegen der unterschiedlichen Auslagung der Anlagen nicht gegeben. „Die hochgelobten Stresstests stellen somit den Weiterbetrieb der Atomanlagen sicher – und nicht eine erhöhung der Sicherheit, die nur durch die Stilllegung aller AKWs gegeben wäre. In Japan wurden Reaktoren nach der Ermittlung von Schwachstellen zwangsweise abgeschaltet – warum nicht auch in Europa?“

Unterdessen wurden die Ergebnisse des deutschen „Stresstests“ fristgerecht zum 31. Dezember 2011 an die Europäische Kommission übermittelt. Der Stresstest ist zusätzlich zu der Sicherheitsüberprüfung durch die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) durchgeführt worden.

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    18. November 2011 – Die Atomenergie im Atomland No. 1 wankt. Die Sozialisten kündigen an, bei einem Wahlsieg 24 Reaktoren abschalten zu wollen. Die Ergenisse der “Stresstests” belegen zudem massive Sicherheitslücken in allen 58 zur Zeit betriebenen Anlagen. Die Zeit für ein Umdenken scheint gekommen.
  • Schwedische AKW fallen bei Stresstest durch
    2. November 2011 – Die schwedischen Atomkraftwerke sind nicht erdbebensicher. Die Massstäbe des EU-Sresstests können nicht erreicht werden. Die Betreiber wollen bis 2013 nachrüsten – aber nicht abschalten.
  • USA: Inspektion offenbart Mängel in AKW
    10. Juli 2011 – Eine spezielle Inspektion der US-Atomkraftwerke brachte nach der Fukushima Katastrophe in Japan Probleme mit dem Notfallequipment und Katastrophenverfahren zu Tage, die weit tiefgreifender sind als in aller Öffentlichkeit von der Atomregulierungskommission beschrieben.
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    22. Juni 2011 – Ein neuer bisher nicht veröffentlichter Bericht der russischen Atombehörde offenbart wichtige Sicherheitslücken in den Atomkraftwerken Russlands. Konkret geht es um Schutz gegen Naturkatastrophen wie Erdbeben, gegen die die zehn Atomstandorte nur sehr schlecht gesichert sind. Russlands Premier Wladimir Putin hingegen bekräftigt nocheinmal, dass Atomenergie für Russland unverzichtbar ist.
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    5. Mai 2011 – In den fünf schweizer Atomkraftwerken sind erhebliche Mängel festgestellt worden. Besonders schlecht schneidet das alte AKW Mühleberg ab. Abgeschaltet werden die Meiler trotzdem nicht. Das ist die Bilanz nach dem ersten “Stresstest” nach Fukushima.

Quellen (Auszug): dpa, salzburg.com, AFP, taz.de, wikipedia.org, iwr.de, europeonline-magazine.eu, grs.de; 04.01.2011