Atomfusion als letzter Strohhalm

Aufgrund der beschränkten Vorhandenheit des fossilen Rohstoffes Uran als Brennstoff in herkömmlichen Atomreaktoren und dem missglückten Versuch der „Schnellen Brüter“ bleibt der Atomindustrie als zeitbezogene Perspektive allein die des Atomfusionsreaktors, von dem heute niemand wissen kann, ob er jemals funktionieren wird.

Fusionsreaktor ITER. Quelle: Greenpeace Magazin

Fusionsreaktor ITER. Quelle: Greenpeace Magazin

Das Funktionsprinzip dieses Reaktors ist, dass zwei Wasserstoffatome (Deuterium und Tritium) in einem heißen Gas fusionieren. Das Gas muss für einige Sekunden auf 100 Mio. Grad Celsius erhitzt werden, heißer als das Sonnenfeuer. Für die Zündung sind sogar 400 Mio. Grad nötig. Selbst wenn es sonst keine Umweltrisiken gäbe und wir allein die von den Atomfusionsforschern geschätzten Kosten zugrunde legen würden – alle Kostenprojektionen der Atomforscher erwiesen sich in der Praxis stets als weit untertrieben -, gibt es keinen wirtschaftsrationalen Grund für die Entwicklung und die Einführung solcher Reaktoren.

So gibt die japanische Fusionsforschung Konstruktionskosten zwischen 2.400 und 4.800 US-Dollar pro KW-Leistung an, was einen Preis zwischen 14 und 38 Cent pro erzeugter Kilowattstunde ausmachen würde. Die untere Ziffer liegt schon höher als die heutigen Durchschnittskosten von Windstrom in Deutschland; die obere liegt höher als die heutigen Photovoltaikkosten in Südeuropa. Alexander Ikndshaw, Direktor des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik und wissenschaftlicher Leiter der deutschen Atomfusionsforschung, gab beim Hearing des Deutschen Bundestages Kosten zwischen sechs und zwölf Euro-Cent an. Allerdings hat er, ebenso wie die vorgenannte japanische Studie, nicht erwähnt, dass die Wände des Reaktors alle fünf bis acht Jahre ausgetauscht werden müssen, was ein bis zwei Jahre in Anspruch nimmt. Das wären die bestrahlten Teile, die als Atommüll endgelagert werden müssten. Durch die langen Ausfallzeiten müsste für zwei oder drei laufende Reaktoren mindestens ein Ersatzreaktor bereitstehen, was die Kosten nach oben schnellen lässt.

Eine Studie, die nicht von einem Fusionsforscher kommt, ist die im Auftrag der EU-Kommission von Emanuele Negro erstellte: Diese kommt auf siebenmal höhere Stromerzeugungskosten als bei einem Atomspaltungsreaktor, berechnet auf eine Laufzeit von 30 Jahren. Diese Kosten vergleicht er mit denen für die Photovoltaik ermittelten Kostendegressionen bis zum Jahr 2050 – bevor also die Atomfusion theoretisch verfügbar wäre. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die PV-Kosten mit denen der heutigen fossilen Stromerzeugungskosten gleichziehen können, während „at the best of our knowledge“ die Atomfusionskosten fünfmal höher liegen würden. Dies bestätigt, was der einstige stellvertretende Leiter des Plasma Fusion Center des Massachusetts Institute of Technology, M.L. Lidsky, schon vor mehr als zwei Jahrzehnten erklärte: Niemand werde diesen Reaktor, so es ihn geben sollte, haben wollen.

Im Übrigen ist es eine Legende, dass Atomfusionsreaktoren keine Umweltrisiken hätten.

Während der Betriebszeit wird das Material im inneren Reaktor hoch radioaktiv, was eine sehr kostspielige Entsorgung nach sich ziehen muss. Dieses Material ist zwar im Gegensatz zu den atomaren Brennstäben der Atomspaltungsreaktoren nur etwa 100 Jahre aktiv, dafür sind jedoch die Mengen erheblich größer. Das für die Fusion erforderliche Tritium kann feste Strukturen durchdringen und bildet sich im Kontakt mit Luft zu tritiiertem Wasser, das schwerste biologische Schäden verursachen kann, wenn es in den Wasserkreislauf kommt. Der Kühlwasserbedarf für die Atomfusionsreaktoren ist extrem hoch. Schon aus dem letztgenannten Grund liegt in dieser Reaktortechnik die Tendenz, sie in hochkonzentrierten Produktionszentren einzusetzen. In der Diskussion sind Reaktoren in den Größenordnungen von 5.000 bis sogar 200.000 MW.

  • Die Gesamtkosten der OECD-Länder für die Atomfusion zwischen 1974 und 1998 lagen schon bei 28,3 Mrd. Dollar. Der in internationaler Kooperation geplante, ITER genannte Testreaktor, der Mitte der 20er Jahre fertig sein soll, wird auf Baukosten von 3,5 Mrd. Dollar geschätzt. Anschließend soll für acht Mrd. Dollar der Demonstrationsreaktor gebaut werden.
  • Als 1955 die UNO eine Atomkonferenz in Genf ausrichtete, wurde der erste Fusionsreaktor für 1975 avisiert. Heute, 50 Jahre später, ist er für 2060 angekündigt.

So qualifiziert die Atomfusionsforscher ausgebildet sein und arbeiten müssen, so unqualifiziert sind ihre Äußerungen, wenn sie auf erneuerbare Energien angesprochen werden. Deren technologische Mängel, obwohl die erneuerbaren Energien schon längst Produktionsleistungen erbringen, werden als auf Dauer unüberwindbar denunziert. Dass es gelingen könnte, Materialien zu entwickeln, die über 100 Mio. Grad Celsius aushalten, wird von ihnen für realistischer gehalten als die Breiteneinführung von erneuerbaren Energien.

Die atemberaubende technologische Entwicklungsleistung für einen Fusionsreaktor, sollte sie je gelingen, korrespondiert bei Atomfusionsforschern mit einem geradezu unterirdischen Niveau der Bewertung der erneuerbaren Energien. Alexander Bradshaw meinte in dem genannten Hearing des Bundestages auf die Frage, ob denn die Atomfusion angesichts der erneuerbaren Energien überhaupt notwendig sei: „Die Predigten der Bettelorden im Hochmittelalter, das Glück in einem einfachen und armen Leben zu suchen, wurden schon damals nur von wenigen Menschen befolgt.“ Den Protagonisten der Atomenergie-Renaissance mangelt es wohl nicht an Erkenntnisfähigkeit, auf jeden Fall aber an dem Willen, sich Kenntnisse über erneuerbare Energien anzueignen. Wären sie dazu bereit, müssten sie die Einstellung des Atomfusionsprogramms und eine Konzentration auf die technologische Optimierung erneuerbarer Energien befürworten.

  • Da sie selbst diesen Weg nicht beschreiten werden, bleibt nur noch die politische Einstellung der Fusionsforschung.
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Quelle: Hermann Scheer: Energieautonomie: Eine neue Politik für erneuerbare Energien, Mai 2005