Vor zehn Jahren: Massive Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen im AKW Philippsburg-2

Vor zehn Jahren sind im Atomkraftwerk Philippsburg-2 Füllstände in Flutungsbehältern des Notkühlsystems unterschritten worden. Das hätte im Falle der Anforderung zu einem Versagen des Notkühlsystems führen können. Der Betreiber EnBW schaltete den Reaktor Philippsburg-2 aber nicht ab – ein schwerer Verstoss gegen die Sicherheitsbestimmungen.

Beim Wiederanfahren nach dem jährlichen Brennelementwechsel hatte die Bedienmannschaft übersehen, dass drei der vier Behälter die Auflagen nicht erfüllten – und damit das Notkühlsystem nicht die Anforderungen des Betriebshandbuches erfüllte. Der Störfall wurde am 10.08.2001 als Sofortmeldung (S) deklariert und in der INES-Skala auf 2 gestuft.

Nach dem Beladen des Reaktors mit frischen Brennelementen waren bereits am 06.08.2001 das Kühlmittel aus dem Reaktorbecken in die vier Flutbehälterpaare zurückgefördert worden. Im weiteren Verlauf wurden am 09.08.2001 mehrere Druckspeicher, die aus Gründen der Instandhaltung entleert waren, mit Kühlmittel aus den Flutbehältern der Stränge 10, 30 und 40 gefüllt.

Die Ergänzung des entsprechenden Borwasservolumens erfolgte aus dem betrieblichen Borsäurevorrat unter Beimischung von Deionat, wobei das Mischverhältnis so einzustellen war, dass die für die Flutbehälter spezifizierte Borsäurekonzentration von 2200 ppm Bor sichergestellt ist. Der Nachspeisevorgang war wenige Stunden vor dem Anfahren des Reaktors am 12.08.2001 abgeschlossen.

  • Durch eine vom Betriebspersonal nicht erkannte Fehlschaltung wurden diese Verluste nicht aus dem Borsäurevorratsbehälter sondern mit Deionat ergänzt. Vor dem Wiederanfahren wurde keine Kontrolle der Borsäurekonzentration vorgenommen. Erst danach wurden die Werte geprüft und festgestellt, dass eine Unterschreitung des spezifizierten Borsäuregehalts in einem Flutbehälter vorliegt.
Bor-Flutbehälter AKW Philippsburg-2 / Quelle: kernenergie-wissen.de

Bor-Flutbehälter AKW Philippsburg-2 / Quelle: kernenergie-wissen.de

Am 25.08.2001 ergaben die Messungen der Borkonzentration nach vorherigem 48-stündigen Umwälzbetrieb in den Flutbehältern von Strang 10 einen Wert von 1950 ppm Bor. Erst im Laufe des 27.8.2001 informierte der Schichtleiter den Bereichsleiter und den Teilbereichsleiter über den unzureichenden Borsäuregehalt. Messungen am 27. und 28.8. ergaben, dass auch zwei weitere Flutbehälterpaare zu geringe Borsäurekonzentrationen aufwiesen. Ab diesem Zeitpunkt war dem Betreiber klar, dass mindestens drei Behälterpaare zu wenig Bor enthielten.

Am 28.8.2001 wurde der Borsäuregehalt des Behälterpaares JNK 30 mit 1738 ppm abgeschätzt. Daraufhin wurde dessen Füllstand abgesenkt, Borsäure nachgespeist und anschließend 48 Stunden umgewälzt. Am 30.8.2001 wurde eine Borsäurekonzentration von 2280 ppm ermittelt.

Am 30.8.2001 ergab eine Probenahme am Behälterpaar JNK 40 einen Wert von 1975 ppm. Bis zum 31.8.2001 wurde der Füllstand abgesenkt, Borsäure nachgespeist und anschließend 48 Stunden umgewälzt. Am 03.09.2001 wurde eine Borsäurekonzentration von 2234 ppm festgestellt und der Behälterinhalt anschließend 48 Stunden umgewälzt.

  • Am 6.9.2001 – also nach einem Monat – standen alle Flutbehälterpaare wieder mit der erforderlichen Borsäurekonzentration zur Verfügung.

Die Flutbehälter sind Bestandteile des Nachkühlsystems zur Beherrschung von Störfällen und sind mit einem Gemisch aus Deionat (vollentsalztem Wasser) und Borsäure gefüllt. Bei einem Leck im Primärkreislauf mit Verlust an Kühlmittel im Reaktor würde das Bor-Gemisch aus den Flutbehältern mit Hochdruckeinspeisepumpen eingespeist, um den Kern zu bedecken. Durch das Bor wird das Unterbrechen der Kettenreaktion begünstigt, weil Neutronen der Kernspaltung „weggefangen“ werden. Dies ist im Störfall wichtig, um die riesigen Wärmemengen, die im Kern entstehen möglichst schnell zu vermindern. Neben der Störfallbeherrschung werden die Flutbehälter zum Füllen der Reaktorgrube beim Brennelementwechsel genutzt.

Bei der Untersuchung des Vorfalls stellt sich heraus, dass das Kraftwerkspersonal und auch der TÜV beschlossen hatten, dass die vorhandene Borsäurekonzentration für eine Störfallbeherrschung ausreichen würde. Zudem wurde festgestellt, dass erhebliche Abweichungen von vorgeschriebenen Anfahrbedingungen und die Verletzung zugehöriger Vorschriften wahrscheinlich über mehrere Jahre hinweg und in verschiedenen deutschen Atomkraftwerken gängige Praxis waren.

Aufgrund von diesem und einem weiteren Vorkommnissen verloren der Kraftwerksleiter und zwei Vorstandsmitglieder des Betreibers EnBW ihre Posten.

Quellen (Auszug): Mycle Schneider: Restrisiko – Ereignisse in Atomkraftwerken seit dem Tschernobyl Unfall 1986, Mai 2007, de.wikipedia.org, kernenergie-wissen.de/kkpii.html; 09.08.2011