Katastrophale Zustände in russischen AKW

Ein neuer bisher nicht veröffentlichter Bericht der russischen Atombehörde offenbart wichtige Sicherheitslücken in den Atomkraftwerken Russlands. Konkret geht es um Schutz gegen Naturkatastrophen wie Erdbeben, gegen die die zehn Atomstandorte nur sehr schlecht gesichert sind. Russlands Premier Wladimir Putin hingegen bekräftigt nocheinmal, dass Atomenergie für Russland unverzichtbar ist.

Der Bericht, der der norwegischen Zeitung „Aftenposten“ zugespielt wurde, ist bisher nicht veröffentlicht worden. Er wurde dem russischen Präsidenten Dmitri Medwedew in der letzten Woche persönlich übergeben. Die Sicherheitsstudie ist nach dem Erdbeben in Japan und dem anschließenden nuklearen Unfall in Fukushima in Auftrag gegeben worden. Vier norwegische Experten haben gegenüber „Aftenposten“ bestätigt, dass die Schlussfolgerungen, die die russischen Behörden selbst ziehen, extrem beunruhigend sind.

„Ich bin entsetzt. Es ist eine dramatische Lektüre, noch dazu, wenn man bedenkt, dass der Bericht vom Eigentümer dieser Kernkraftwerke kommt. Es ist die schwerwiegendste Beschreibung des Zustandes der russischen Kernkraftwerke, die ich je von „Rosatom“ gelesen habe“, so Nils Böhmer, Atomphysiker und Geschäftsführer der internationalen Umweltschutzorganisation „Bellona“.

„Dieser Bericht scheint eine gründliche Bewertung der Defizite der Sicherheit der Kernkraftwerke in Russland zu sein“, sagt Erlend Larsen, einer der führenden norwegischen Experten im Bereich der nuklearen Sicherheit.

„Der Bericht zeigt Mängel, die bisher nicht öffentlich zugänglich waren und über die die Russen bisher auch nicht die internationale Öffentlichkeit informiert haben“, so Kernphysiker Ole Reistad von der norwegischen Strahlenschutzbehörde.

Der Bericht listet insgesamt 31 Sicherheitslücken auf, die die Kernkraftwerke als schlecht vorbereitet auf Erdbeben, Tornados, Unfälle auf dem nahe gelegenen Kraftwerken oder anderen Katastrophen zeigen:

  • Die meisten Reaktoren werden bei einem Erdbeben nicht automatisch heruntergefahren. (Die automatische Abschaltung hat in Fukushima dafür gesorgt, dass der Unfall nicht noch schwerwiegendere Konsequenzen hatte.)
  • Die Gefahr von Erdbeben ist bei der Standortwahl der Atomkraftwerke nicht berücksichtigt worden. Dies gilt auch für Reaktoren in erdbebengefährdeten Gebieten wie in der Nähe des Uralgebirges.
  • Seismische Daten werden nicht aktualisiert und es gibt keine Notfallpläne für schwere Unfälle, die durch Naturkatastrophen ausgelöst werden.
  • Die Notkühlsysteme der Atomreaktoren sind schlecht. Die früher abgegebenen Garantien, dass die Notkühlung für mindestens einen Tag gewährleistet ist, ist falsch.
  • Die Lagerung von Kernbrennstoffen ist unzureichend: unklare Regeln, volle Lager und ungünstige Lagerbedingungen. Die Kernbrennstoffe können nach einem Erdbeben in die Umwelt gelangen.
  • Die Rohre der Notkühlung der Reaktoren haben Fehler in den Schweißnähten. Es gibt so große Schwächen, dass sie bei einer Katastrophe schicksalhaft sein können.
  • Es gibt keine Übersichten darüber, was die Reaktorleitung benötigt, um einen sicheren Betrieb zu gewährleisten.
  • Es fehlt an ausgebildeten Technikern, um Fehler sachgemäß reparieren zu können.
  • Der Aufsichtsbehörde „Rostekhnadzor“ fehlen Inspektoren, um die Sicherheit zu überwachen.

Einige der gravierendsten Mängel beziehen sich auf die beiden ältesten Reaktoren auf der Kola-Halbinsel in der Nähe von Finnland. Sie entpuppten sich als besonders anfällig. Dazu gehören Schwachstellen in Systemen für die Notkühlung der Reaktoren. Besonders negativ seien auch die Meiler in Kursk und Leningrad (Sosnowy Bor), wo sich jeweils zwei graphitmoderierte RBMK-Reaktoren vom Tscherobyl-Typ in Betrieb befinden, zu bewerten.

In Russland sind derzeit an zehn Standorten insgesamt 31 Reaktorblöcken mit einer installierten Bruttogesamtleistung von 23.242 MW am Netz. Acht weitere Reaktorblöcke sind teilweise seit mehr als 20 Jahren im Bau, sechs Blöcke bereits stillgelegt.

Prmier Putin bekräftigte am Dienstag noch einmal, dass Russland auch nach Fukushima nicht auf Atomenergie verzichten wird: Der Anteil der Atomenergie an der gesamten Energiewirtschaft Russlands werde von den heutigen 15 bis 16 Prozent auf 25 steigen. Russland werde sich in dieser Richtung weiter entwickeln, so Putin bei einem Forum des „Französisch-russischen Dialogs“ in Paris.

Quellen (Auszug): russland.ru, de.wikipedia.org; 22.06.2011