Tschernobyl-Strahlung: Die kubanische Mädchenlücke

In Kuba wurden nach dem Super-GAU von Tschernobyl ungewöhnlich viele Jungen geboren. Grund seien radioaktiv belastete Lebensmittelimporte aus der Sowjetunion. Das statistisch signifikante Missverhältnis zwischen geborenen Jungen und Mädchen wurde auch an deutschen Atomanlagen entdeckt – und offiziell ignoriert.

Das Umweltmagazin zeo2 berichtet in seiner neuen Ausgabe, dass ab 1987, also exakt ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine, sich in Kuba das Geschlechterverhältnis bei den Geburten auffällig verschoben hat. Der Statistik zufolge seien signifikant weniger Mädchen als Jungen auf die Welt gekommen: 18 Prozent. Das staatliche Hygiene-Institut Havanna findet keine Erklärung, dass auf bis zu 118 Jungen 100 Mädchen kamen. Ab dem Jahr 2000 habe sich das Verhältnis wieder normalisiert.

Eine mögliche Antwort liefert der Blick auf die Importe von Lebensmitteln, schreibt die taz. Wegen des Embargos war die Karibikinsel stark auf die Einfuhr von Nahrungsmitteln aus der Sowjetunion angewiesen, zetiweise bis zu 63 Prozent. Offenbar wurden dabei verseuchte Waren nach Kuba gebracht.

Weil der weibliche Embryo sehr viel sensibler auf Strahlenbelastungen reagiert, kommt es bei Schwangerschaften mit Mädchen häufiger zum Absterben des Embryos. Deshalb werden unter dem Einfluss erhöhter Radioaktivität mehr Jungen geboren. Dieses Phänomen ist auch in Mittel- und Osteuropa in den vom Fallout betroffenen Gebieten und im Umkreis einiger Atomanlagen beobachtet und dokumentiert worden. In Gorleben oder das havarierte Endlager Asse-2 gibt es diese „Mädchenlücke“. Ein Zusammenhang mit den Atomanlagen liegt auf der Hand – aber er wird bis heute offiziell und hartnäckig bestritten. Der Berliner Arzt und Epidemiologen Christoph Zink, Autor des zeo2-Artikels zum Kuba-Befund, spricht von einer „hartnäckigen Ignoranz“. Es sei der „letzte Versuch, das alte Weltbild der Strahlenbiologie und seine von der Wirklichkeit längst überholten Grenzwerte aufrechtzuerhalten“.

  • Verlorene Mädchen: Immer mehr Hinweise auf „Geschlechterlücke“ bei radioaktiver Niedrigstrahlung
    27. April 2012 – In Regionen und Zeiten erhöhter künstlicher Radioaktivität werden weniger Mädchen geboren – Wissenschaftler finden Auffälligkeiten nach atmosphärischen Atomwaffentests, nach der Katastrophe von Tschernobyl und in der Region um das Zwischenlager Gorleben – Erklärungsansätze führen das Phänomen zurück auf zum Zeitpunkt der Befruchtung ohnehin fehleranfällige Entwicklungsprozesse, die auch auf ionisierende Strahlung besonders empfindlich reagieren – Deutsche Umwelthilfe fordert Untersuchungsprogramm.
  • Weniger Mädchen in der Umgebung von Atomkraftwerken
    23. November 2010 – In der Umgebung von Atomkraftwerken kommen in Deutschland und der Schweiz weniger Mädchen auf die Welt. Das geht aus einer im Oktober 2010 veröffentlichten wissenschaftlichen Studie von Ralf Kusmierz, Kristina Voigt und Hagen Scherb hervor. In den letzten 40 Jahren haben Mütter, die in Deutschland und in der Schweiz im Umkreis von 35 km einer der untersuchten 31 Atomanlagen leben, bis zu 15.000 Kinder weniger geboren als durchschnittlich zu erwarten gewesen wäre, die Mehrzahl davon Mädchen. Für die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW untermauert diese Studie den ursächlichen Zusammenhang von radioaktiver Strahlung und einer Schädigung von Zellen – insbesondere bei Embryonen.
  • Neue Analyse belegt: Leukämierisiko im Umkreis von AKWs signifikant erhöht
    4. August 2011 – Kleinkinder im Nahbereich von Atomkraftwerken haben ein signifikant erhöhtes Risiko an Leukämie zu erkranken. Das belegt eine heute im Strahlentelex veröffentlichte Metaanalyse des Wissenschaftlers Dr. Alfred Körblein. Die gemeinsame Auswertung von Daten aus Deutschland, Großbritannien und der Schweiz zeigt im 5km-Bereich eine signifikant um 44 Prozent erhöhte Leukämierate gegenüber der Rate im Entfernungsbereich größer als 5 km (p=0,004).
  • Weniger Mädchen-Geburten um die Asse
    7. Dezember 2010 – Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW widerspricht der jüngsten Einschätzung der Bundesregierung, die vermehrten Krebsfälle in der Asse-Region seien rein zufällig. Während des Betriebs des Atommülllagers Asse sind dort in der Region neben den schon bekannten gehäuften Krebsfällen bei Erwachsenen nun auch deutlich zu wenig Mädchengeburten festgestellt worden. Dieses Ergebnis ist signifikant. Den Zufall als Ursache anzunehmen, erscheint extrem unwahrscheinlich.
  • Erhöhte Krebserkrankung um die Endlager Asse und Morsleben
    28. November 2010 – Um die zwei Endlagerbergwerke in Deutschland, in denen Atommüll eingelagert wurde, ist die Erkrankung an Blutkrebs signifikant erhöht. Laut Krebsregister sind doppelt soviele Menschen an Leukämie erkrankt, als im Bundesdurchschnitt. Nun müssen Untersuchungen folgen, um die Ursachen zu klären. Das es einen Zusammenhang mit dem Atommüll gibt, kann nicht ausgeschlossen werden. Erste “Experten” erklären einen Zusammenhang mit dem Atommüll schonmal als unwahrscheinlich.
  • WHO-Chefin: Auch Niedrigstrahlung ist gefährlich
    6. Mai 2011 – Bislang vertrat die WHO immer dieselbe Position wie die IAEA: So genannte “interne radioaktive Strahlung”, im Körper angereichert, sei nicht gefährlich. Damit ist nun Schluss: “Es gibt keine ungefährlichen Niedrigwerte radioaktiver Strahlung”, erklärte WHO-Generaldirektorin Margaret Chan am Mittwoch bei einem kurzfristig anberaumten Treffen mit Mitgliedern der kritischen “Initiative für eine unabhängige WHO”.

Quelle (Auszug): taz.de, 08.10.2012