Fukushima ein „schwerwiegendes Desaster von Menschenhand“

Die Katastrophe von Fukushima war das Ergebnis von Kungeleien zwischen Regierung, Atomaufsicht und der Betreiberfirma Tepco. Befehle seien blind befolgt worden. Zu diesem Urteil kommt ein Untersuchungsausschuss des japanischen Parlaments. Schuld an der schwersten Atomkatastrophe in der Geschichte ist menschliches Versagen. Ein Schlag ins Gesicht aller Opfer. Während bei Kindern die Strahlenschäden sichtbar werden, gehen hundertausende aus Protest gegen das Wiederanfahren von AKW auf die Straße.

Blockade des AKW Oi am 1. Juli 2012. Foto: Fumiko Kawazoe

Blockade des AKW Oi am 1. Juli 2012. Foto: Fumiko Kawazoe

Über sechs Monate hinweg interviewte der offizielle Untersuchungsausschuss 1.167 Menschen und besuchte mehrere Kraftwerke. Das Ergebnis ist eindeutig: die Katastrophe am 11. März 2011 sei zwar vom Erdbeben und vom Tsunami ausgelöst worden. Dennoch könne „der folgende Unfall im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi (…) nicht als ein Naturdesaster angesehen werden. Es war ein schwerwiegendes Desaster von Menschenhand“. Der Unfall sei vorhersehbar und vermeidbar gewesen. Die Auswirkungen hätten zudem durch effektivere Maßnahmen verringert werden können. Obwohl allen das Risiko bekanntgewesen sei und man gewusst habe, dass das AKW nicht den Sicherheitsanforderungen entspreche und einem solchen Erdbeben und Tsunami nicht standhalten konnte, sei nichts unternommen worden.

Auch das Krisensystem der Zentralregierung in Tokio und der betroffenen Behörden habe versagt, die jeweiligen Verantwortlichkeiten und Aufgaben seien unklar gewesen. Jahrelang hatten es die Aufsichtsbehörden versäumt, geeignete Maßnahmen für solche Krisenfälle einzuführen, was im März 2011 zu dem Chaos bei der anschließenden Evakuierung der betroffenen Menschen beigetragen habe. Viele Anwohner seien erst spät über den Unfall informiert worden, andere sogar in Gebiete evakuiert worden, die stärker verstrahlt waren als ihre Heimatorte.

Auch gegen den AKW-Betreiber Tepco erhebt die Kommission schwere Vorwürfe: die Mitarbeiter seien weder ausreichend auf Unfälle vorbereitet und geschult, noch habe es ausreichend klare Anweisungen vor Ort zum Zeitpunkt der Katastrophe gegeben. Mit der „Entschuldigung“ seitens Tepcos, eine derartige Tsunami-Welle und ein solch schweres Erdbeben seien nicht vorhersehbar gewesen, wolle der Konzern die Bevölkerung täuschen und „der Verantwortung entgehen“. Absichtlicht seien wichtige Massnahmen und Entscheidungen vertagt worden.

Ganz neu ist das zwar alles nicht. Aber der Report ist wertvoll und beispielhaft über die Landesgrenzen hinaus. Denn die Kommission hat sich politisch nicht vereinnahmen lassen. Zu verdanken ist diese Leistung vor allem dem Ausschussvorsitzenden Kiyoshi Kurokawa, ehemalige Wissenschaftsberater der japanischen Regierung.

Unterdessen befürchtet die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) eine Zunahme von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in der Präfektur Fukushima. Bestätigt sehen die IPPNW-Ärzte diese Befürchtung aufgrund einer Untersuchung der Gesundheitsbehörde der Präfektur Fukushima an 38.114 Kindern im Alter von 0-18 Jahren, die Ende April 2012 veröffentlicht wurde. Ein Vergleich mit früheren Studien offenbart bei 35 % der untersuchten Kinder Schilddrüsenzysten, bei einem Prozent Schilddrüsenknoten. Diese Veränderungen sind laut Dr. Matsuzaki Hiroyuki, Leiter der Abteilung für Innere Medizin im Allgemeinen Städtischen Klinikum der Stadt Fukugawa, ein Hinweis darauf, dass sich in der Schilddrüse „etwas Außerordentliches abspielt“. Die australische Kinderärztin und -chirurgin Helen Caldicott bestätigt den Verdacht: Kinder hätten normalerweise gar keine Schilddrüsenknoten oder -zysten. Die große Zahl von Schilddrüsenveränderungen seien der Beweis dafür, dass die Kinder in der Präfektur Fukushima hohen Dosen von Jod-131 ausgesetzt waren. Die Veränderungen müssten als Vorboten von Schilddrüsenkrebs angesehen werden.

Hundertausende Menschen gehen zur Zeit in Japan Tag für Tag gegen die Wiederinbetriebnahme eines ersten Atomkraftwerks auf die Straße. Am Freitag, 29. Juni 2012, erlebte Tokio eine der bisher größten Anti-Atom-Demonstrationen des Landes: Die Veranstalter zählten 200.000 Menschen, die sich vor dem Amtssitz des japanischen Regierungsschefs Toshihiko Noda versammelten. Sie wollen nicht hinnehmen, dass Japan 15 Monate nach Beginn der Fukushima-Katastrophe wieder in die Atomenergie einsteigt. Monate lang waren alle 50 Atomreaktoren in Japan abgeschaltet. Die Provinzregierungen widersetzen sich dem Wunsch der Betreiber, die Meiler wieder anzufahren – bis die japanische Regierung anders entschied. Am Wochenende 30.6./1.7.2012 begann Kansai Electric Power Co (Kepco), den Reaktor 3 in Oi (oder Ohi) hochzufahren.

Wie fühlt es sich für eine japanische Familie an, deren Kinder vermutlich an Schilddrüsenkrebs erkranken werden, wenn die Regierung derartig verantwortungslos handelt? Die Proteste gegen die deutschen Atompläne 2010/11 haben gezeigt, dass sich die Politik langfristig gegen eine Mehrheit in der Bevölkerung nicht durchsetzen kann. Auch die japanische Atomlobby wird untergehen.

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Quellen (Auszug): welt.de, spiegel.de, ippnw.de, handelsblatt.com, ausgestrahlt.de; 06.07.2012