Verlorene Mädchen: Immer mehr Hinweise auf „Geschlechterlücke“ bei radioaktiver Niedrigstrahlung

In Regionen und Zeiten erhöhter künstlicher Radioaktivität werden weniger Mädchen geboren – Wissenschaftler finden Auffälligkeiten nach atmosphärischen Atomwaffentests, nach der Katastrophe von Tschernobyl und in der Region um das Zwischenlager Gorleben – Erklärungsansätze führen das Phänomen zurück auf zum Zeitpunkt der Befruchtung ohnehin fehleranfällige Entwicklungsprozesse, die auch auf ionisierende Strahlung besonders empfindlich reagieren – Deutsche Umwelthilfe fordert Untersuchungsprogramm.

Berlin, 27. April 2012: Ob nach den atmosphärischen Kernwaffentests der Atommächte seit den fünfziger Jahren, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 oder in der Region Gorleben seit die Castor-Transporte rollen, stets finden Wissenschaftler die gleichen Auffälligkeiten in den Geburtenstatistiken: Es werden signifikant weniger Mädchen geboren als Jungen, auch wenn die künstliche Strahlenbelastung weit unter den zulässigen Grenzwerten liegt. Über den statistischen Befund gibt es keinen Streit. Doch während die herrschende Strahlenwissenschaft öffentlich über das Phänomen der „verlorenen Mädchen“ schweigt und intern einen Zusammenhang mit künstlicher Strahlung spekulativ nennt, suchen Biostatistiker Strahlenbiologen und Humangenetiker nach Erklärungen.

„Die Häufigkeit der verstörenden Befunde deutet auf grundlegende Probleme bei der geltenden Bewertung radioaktiver Niedrigstrahlung hin“, sagte der Leiter Politik und Presse der Deutschen Umwelthilfe e. V. (DUH), Gerd Rosenkranz.

Angesichts der wachsenden Zahl gleichgerichteter Unregelmäßigkeiten in den Geburtenstatistiken verlangt die DUH von der Bundesregierung „einen systematischen Versuch der wissenschaftlichen Aufklärung“. Das sei man den Menschen in den betroffenen Regionen schuldig, die wegen der Befunde erheblich verunsichert seien.

Rosenkranz: „Es kann nicht sein, dass Politik und Strahlenwissenschaft offenbar aus Furcht vor den Konsequenzen einer neuen Grenzwertdiskussion über künstliche Radioaktivität den Kopf in den Sand stecken und zur Tagesordnung übergehen.“

Aktuell hatten der Biomathematiker Hagen Scherb vom Helmholtz Zentrum München und seine Kollegen Kristina Voigt und Ralf Kusmierz in einem 40 Kilometer-Radius um das Zwischenlager Gorleben ein eindrucksvolles „Mädchendefizit“ ermittelt – und zwar genau seit 1995, als die ersten Castor-Behälter mit hochradioaktiven Abfällen in die Region rollten. Im Zeitraum von 1996 bis 2010 kamen dort fast tausend Mädchen weniger zur Welt, als nach den Statistiken der Vorjahre zu erwarten gewesen wären. Auswertungen an anderen Atomstandorten (wie dem niedersächsischen Atommülllager Asse), in den Fallout-Regionen nach den atmosphärischen Kernwaffentests der Atommächte und nach der Katastrophe von Tschernobyl, wo gestern vor 26 Jahren Reaktorblock 4 explodierte, ergaben ähnliche Ergebnisse. Nach Tschernobyl fanden die Forscher zudem eine „Mädchenlücke“ in Europa, nicht aber in den vom Fallout aus der Ukraine kaum betroffenen USA.

Normalerweise sei das Geschlechterverhältnis in einer Region bei der Geburt relativ konstant, erläuterte Scherb. Jede Veränderung sei deshalb ein Indikator für physikalische oder chemische Belastungen. Ionisierende Strahlung wirke bekanntlich genverändernd und könne auch das Geschlechterverhältnis bei der Geburt beeinflussen. Insbesondere in der Region Gorleben seien andere vorstellbare Ursachen als die hochradioaktiven Abfälle nicht ersichtlich.

Scherb: „Der Effekt ist stark und spezifisch, die Beobachtungen sind konsistent, es bestehen signifikante zeitliche und räumliche Zusammenhänge.“

Es sei deshalb nicht nachvollziehbar, dass die Befunde bis heute weitgehend ignoriert würden.

Prof. Karl Sperling vom Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité in Berlin sucht seit vielen Jahren in der frühen Entwicklungsphase um die Befruchtung herum nach Erklärungen für die Zunahme von Aneuploidien (Trisomie 21, Down Syndrom) und die Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses unter radioaktiver Niedrigstrahlung. Die zu diesem Zeitpunkt ohnehin fehleranfälligen Entwicklungsprozesse, reagieren nach seiner Vorstellung auch extrem empfindlich auf ionisierende Strahlung. Möglich sei beispielsweise, dass es zu einem durch Strahlung ausgelösten Verlust oder Defekt eines väterlichen X-Chromosoms komme, der in der Folge nur weibliche Embryonen schädige und frühzeitig absterben lasse.

„Derartige Abläufe in der frühesten embryonalen Phase können die Tatsache, dass auch unter sehr niedriger Strahlenbelastung weniger Mädchen geboren werden als Jungen, prinzipiell erklären“, sagte Sperling.

Jedenfalls sei der Zufall als Erklärung wegen der vielen übereinstimmenden Befunde auszuschließen.

Für den Berliner Arzt und Epidemiologen Christoph Zink, sind gescheiterte Schwangerschaften und vermehrte Fehlbildungen auch bei nur niedriger zusätzlicher Strahlenbelastung ein Beweis für „konzeptionelle Fehler in der heute weltweit üblichen Bewertung der Risiken künstlicher Radioaktivität“. Ein Grunddilemma der Strahlenbiologie bestehe darin, dass Strahlenwirkungen durch zusätzliche künstliche Radioaktivität kaum je unterscheidbar seien von anders verursachten Störungen. Belegt werden könne ein solcher Effekt nur statistisch und hier am ehesten bei einer sehr hohen zusätzlichen Strahlenbelastung, etwa nach Nuklearkatastrophen, oder bei besonders empfindlichen Organismen, zu denen ungeborene Kinder gehören. Dazu passten die Befunde über die „verlorenen Mädchen“.

Zink kritisierte, dass die zur Berechnung von Strahlendosen und Grenzwerten verwendeten Modelle zahlreiche Erkenntnisse der modernen Strahlenbiologie und die klinischen Erfahrungen seit Tschernobyl nicht berücksichtigen. Er wies darauf hin, dass diese neueren Entwicklungen seit 2010 in Empfehlungen des „Europäischen Komitees für Strahlenrisiken“ (ECRR) zusammengefasst vorliegen. Darin werde unter anderem vorgeschlagen, künftig die unterschiedliche Strahlensensibilität vor allem von Ungeborenen und Kindern bei der Festlegung von Grenzwerten stärker zu berücksichtigen. Außerdem sollten demnach in den Körper aufgenommene Strahler – je nach ihrer anzunehmenden biologischen Wirksamkeit – stärker gewichtet werden als bisher.

Zink: „Das gesicherte Wissen der Strahlenbiologie ist weit kleiner, als bisher geglaubt. Aber es ist längst groß genug, um viele heute noch gültige Annahmen als falsch zu erkennen.“

Christoph Zink war Chefredakteur des Medizin-Nachschlagewerks „Pschyrembel“, und veröffentlichte eine Reihe von Wörterbüchern zu radiologischen Themen. In der aktuellen Ausgabe des von der DUH herausgegebenen und neuerdings von der taz verlegten Umweltmagazins zeo2 fasst er die wissenschaftlichen Ergebnisse zur „Geschlechterlücke“ unter radioaktiver Niedrigstrahlung zusammen.

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Quelle: duh.de; 27.04.2012